Callcenter Agent
Aufgestiegen zum Kummerkasten
callcenteragent | 12. Juli 07
Anscheinend bin ich die Hierarchieleiter ein wenig aufgestiegen - ich werde in einem Atemzug mit unseren langjährigen Telefonisten genannt! Und nicht nur das, ich bekomme auch deren "Spezialbehandlung", d.h. höchstpersönliches Anschreien zu spüren - natürlich zu Motivationszwecken.

Natürlich habe ich - für die kurze Zeit, in der ich dort jetzt arbeite - ziemlich viele und "gute" Termine gemacht, ich dachte nur nicht, dass das ganze so schnell geht. Kollegen, die einige Monate länger da sind als ich, vergessen diesen Fakt und gehen davon aus, ich sein schon ein paar Jährchen da. Obwohl sie es besser wissen müssten. Seltsame Art von Vergesslichkeit - oder doch Gleichgültigkeit?

Als ich vom Toilettenbesuch zurückkomme, fange ich mir ängstliche Blicke und leise, zaghafte Anmerkungen ein: "SchXXe, dein Handy hat geklingelt!" Ich setze mich, schalte es aus - da kommt schon die Chefin auf mich zu gestampft, knallrot im Gesicht, schreit: "Handy aus!!". Grinsend, freundlich, entgegne ich: "Wenn man es einmal vergisst..." Das wars, nichts weiter. Man hat auch Privilegien, so als "Obertelefonierer".

Wir sollen ja versuchen, gleich auf die emotionale Ebene zu kommen, kühle, rechnende Köpfe brauchen wir sowieso nicht als "Kunden".
Man hat da so seine Tricks, so auch bei der Dame gestern - sie war, laut ihrer Tochter, kurz mit den Hunden weg, ich solle später nochmal anrufen. Hab mir das notiert, eine Stunde später erreiche ich sie und spreche sie ziemlich direkt auf die Hunde: "mehrere? Ja welche Rasse denn...? Wir sind nämlich auch gerade am überlegen, ob wir uns einen Hund zulegen..." Ich erfahre alles, auch dass die beiden Mischlinge ganz gut mir der jungen Katze im Haushalt zurechtkommen. Ich taste mich weiter vor - und erfahre schreckliches: der Mann und Vater sei im letzten Jahr tödlich verunglückt, wie schwer das für alle ist, besonders für die pubertierende Tochter, dass die Familie seitdem zerstritten ist, weil Mutter und Tochter um das Erbe vor Gericht streiten mussten und noch vieles grausames mehr. Nach 15, 20 Minuten bin ich einigermaßen geschockt, versuche elegant und so einfühlsam als möglich das Gespräch zu einem Ende zu führen. Die arme Frau hat sich aber schon so warm geredet, braucht anscheinend einfach mal jemand Fremdes, um sich auszuheulen. 30 Minuten später schaffe ich es, die Kurve zu kriegen, rede mit ihr kurz über das Geschäftliche, wünsche ihr alles Gute, Kopf hoch! und lösche sie dann aus der Datenbank.

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, Donnerstag, 12. Juli 2007, 12:32
45 Minuten für ein Gespräch? Ich habe ja noch nie in einem callcenter gearbeitet, kann mir aber kaum vorstellen, daß die gesprächeüberwachende Chefin sowas durchgehen läßt. Mein Eindruck, daß es sich bei callcenter agent um ein Pahantasieprodukt handeln könnte, verstärkt sich.

 
30min. gesamt - und ja, die chefin hats natürlich gemerkt.

 
Mein Rekord damals an der Compuserve-Hotline lag bei 65min .... für ein Telefonat mit Mr. Super-DAU.
Aber ich habe ihn Online bekommen ... und meine Callzahl trotzdem fast geschafft. :-)

Grüße vom Bodensee
Jörg
http://www.stundenzeiger.de


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tromann, Donnerstag, 12. Juli 2007, 12:37
Der Job wäre definitiv nichts für mich. Stelle ich beim lesen deines Blogs immer wieder fest. Schätze das sind die Läden in denen Amokläufer gezeugt werden ?

 
Wieso??? - Von Sex am Arbeitsplatz hat doch keiner was gesagt.


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, Donnerstag, 12. Juli 2007, 12:41
"Mann und Vater"? Inzest?



aber respekt, ich brauche also nur dem nächsten agenten 30 min die ohren vollnöhlen, wie schlecht es mir geht und ich werde GELÖSCHT?
das iss ja noch besser als der tipp mit der anzeige von neulich ;-)

PS: deine "register" funktion für kommentare funktioniert nicht

 
könnte funktionieren, ja. langsam aufbauen, dann bleibt er dran.


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, Donnerstag, 12. Juli 2007, 12:54
Ist der Blog hier eine Guerilla Marketing Aktion? Deine Schreibe ist sehr professionell und unterhaltend. Wann erscheint das Buch zum Blog ;-)

 
ich nehme das mal als die erste bestellung auf ;-)

 
Du hast doch die Kontonummer noch gar nicht... ;-)

 
wer sagt das? ;-)


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sethos, Donnerstag, 12. Juli 2007, 13:11
Für das Datenbanklöschen, wenn das bemerkt wird, dürfte es ja wohl einigermaßen Rübe runter geben, oder?

Und wenn es eine gute Datenbank ist, dann dürfte ein Callcenter-Agent eh nicht löschen, nur auf 'inaktiv' setzen, mit Begründung. Nur Supervisoren oder Datenbankadministratoren sollten physisch löschen dürfen.

Wenn das nicht so ist, dann braucht das callcenter erstmal ein besseres Datenbanksystem...

 
natürlich nicht _physikalisch löschen_ aber eben auf "auf keinen fall nochmal anrufen", mit begründung: "500€/monat witwenrente"

 
Tja, das ist die clevere Methode. Bei 500 € Witwenrente ist der Verkauf von Finazdienstleistungen zwecklos.-


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, Donnerstag, 12. Juli 2007, 13:39
@10:32: über ne halbe stunde gespräch für ein termin oder so ist durchaus drin. hatte ich auch schon gehabt. zuerst sich alles mögliche über die flut etc. anhören und dann nen termin machen. also durchaus sehr realistisch. und wenn man das glück hat, bei ner meinungsumfrage zum thema radiohörverhalten und bla mitzumachen, kann das auch schon ne dreiviertel stunde dauern. halbe stunde die umfrage mit musikabspielen und blablabla und dann vielleicht nochmal fast soviel, weil die dame sich ausquatschen muß.

 
ich liebe es ja wenn mich telefonsklaven (vornehmlich meinungsforschung) mit dem spruch "es dauert nur 5 minuten" anrufen und mich dann eine halbe stunde zu allem möglichen ausfragen ... bin ich froh das coldcalls in österreich (noch) nicht so verbreitet sind


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, Donnerstag, 12. Juli 2007, 14:50
Hm, sympatisches Verhalten .. und das, obwohl du ja nun schon ein Pro bist... ^^

Aber du wirst relativ konkret, wenn deine Cheffin das liest [je nach dem wie sehr man in dieser Branche nach undichten Stellen sucht], dürfte sie auch wissen, dass du es bist.. außer du bist wirklich so schlau wie ich denke und verdrehst genug Tatsachen :))

 
dankeschön! bin ja selbst überrascht - über "pro" versteht sich ;-)

ob die nach undichten stellen suchen, frag' ich mich auch - ich denke aber, die sind so von sich überzeugt, dass denen nie in den sinn kommen würde, dass einer ihrer dummen, billigen telefonsklaven würde so etwas wie hier tun. dazu sind weblogs allgemein auch noch zu unbekannt. kritisch wird's erst, wenn die zugriffe der printmedien hier noch weiter zunehmen.. und dann sind die tatsachen zwar alle so geschehen, aber dennoch geschickt genug verdreht. hoffe ich ;-)

 
Ich nehme an, nicht sie hat dir die Ohren vollgeheult sondern du ihr ;-)
Gelungener Blog, echt interessant zu lesen, was da so abgeht.
Durchhalten...

 
nicht wirklich, auf den tod ihres mannes ist sie tatsächlich über die tiere gekommen... tun gut, beruhigen, lenken ab etc.. und dann war sie nicht mehr zu halten, die arme.

 
am besten finde ich ja die letzten worte im blog text.sehr ehrenhaft das du die arme frau für deine firma uninteresant gemacht hast. ;-)
ein hoch auf unseren spion. :-)

 
das ist immerhin anweisung von oben. zumindest habe ich das so verstanden ;-)


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, Donnerstag, 12. Juli 2007, 19:09
achja, allerleibste erfahrungen. bin leidensgenosse, allerdings "nur" in einem marktforschungsintitut. aber wie mir ein lieber mann am telefon neulich erklärte, sollte ich doch besser anschaffen gehen, denn das sei wenigstens ein ehrlicher job....verstorbene habe ich auch schon angerufen, aber wem wird das denn schon unter die haut gehen, so lange die quote steht kann dir keiner was an...;)
aber wie war das, kopf hoch, andere firmen haben auch scheiß jobs
grüße aus bremen

 
recht hat der mann. und ihr solltet die konsequenzen ziehen (neu nicht prostitution, aber notfalls noch eher hartz iv als cold calls).

fuer meinungsforscher hatte ich frueher ja noch verstaendnis, aber es nimmt einfach ueberhand.

wobei es da auch lustige situationen gab. einer rief die nummer meiner damals 10-jaehrigen an. sie ging ran... der wollte nen erwachsenen sprechen. sie will mich ans telefon holen, ich lehne ab. wenn der mann mich sprechen will, haett er meine nummer waehlen sollen, wenn er aber meine tochter anruft, was soll ich dann am telefon? soll er sich doch mit ihr unterhalten.

sie also versucht geduldig, ihm das klarzumachen. will der aber wohl nicht kapieren (tja, bei ISDN hat haben halt auch die kinder ihre eigenen nummern). irgendwann wirds meiner tochter zu bloed... "mein papa ist nicht da" sagt sie, obwohl der kerl sicher gehoert hat, wie sie mit mir gesprochen hat, und legt auf :-)
eckh


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, Donnerstag, 12. Juli 2007, 22:51
Hi, also ich möchte mich den Vorrednern mal anschliessen. Sehr schöne Schreibe, der Stil gefällt mir gut und setze mich doch bitte als Besteller Nummer 2 Deines Buches :-)

CallCenter in dem Sinne ist zum Glück an mir vorbei gegangen, ich habe Hotline in der IT gemacht, allerdings "gehobener" Anspruch, keine Endkunden, sondern das waren dann schon die Admins unserer Kunden. So einen richtigen CallCenter-Job könnte ich nicht machen. Hut ab und Dein Verhalten mit der Frau finde ich sehr löblich.


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anrufbeantworter, Freitag, 13. Juli 2007, 12:01
Die Zustände, die du beschreibst, hören sich ja fürchterlich an. Euer Management scheint ja vollkommen am Rad zu drehen (von wegen bei jeder Gleinigkeit gleich an die Decke zu gehen).

Generell würde ich mir allerdings überlegen, ob es Sinn macht, so viel Zeit für jemanden zu verschwenden, der nicht kaufen kann. Es sei denn, du siehst solche Gespräche als karitative Arbeit. Hört sich jetzt vielleicht etwas hart an, aber du gehst sicherlich nicht zum Spaß in den Laden und Provision gibt es bestimmt nur für Meetings/Buchungen.

 
ja, es macht aus wirtschaftlicher sicht wenig sinn, mit armen witwen zu reden - allerdings bin ich trotz dieses jobs erstmal mensch - und wenn ich höre, dass das alles jetzt einfach mal raus muss, höre ich einfach zu.


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